Kleinbürger im Osten

Im Feuilleton der ZEIT vom 25.02.16 analysiert der Autor Adam Soboczynski die jüngsten fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Ostdeutschland, speziell in Sachsen. Er versucht sich dabei an einer speziellen ideologiegeschichtlichen Deutung. Die heutige Ausländerfeindlichkeit ist seiner Meinung nach eine letztlich nur leicht verzerrte Fortschreibung des antikommunistischen Widerstandsgeistes: Man muss sich nicht alles gefallen lassen, was „die da oben“ sagen, die Obrigkeiten tanzen einem nur so lange auf der Nase herum, „bis man sich wehrt“. Soboczynski zieht dabei eine historische Linie von der sozialistischen These der internationalen Solidarität zur heutigen Situation. Doch schon der Internationalismus hätte die Ostdeutschen nicht überzeugt, schreibt er. Man hörte es nur „von oben“, es spielte im eigenen kleinbürgerlichen Alltag einer weitgehend homogenen Gesellschaft keine praktische Rolle. Diese Erfahrung hätten die Ostdeutschen mit den Polen oder den Ungarn gemein – deshalb seien viele Sachsen auch heute noch den Polen, Tschechen und Ungarn näher als den Westdeutschen. Und weiter schreibt er:

„Im Osten war der Internationalismus eine Doktrin ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. Die Fremdenfeinde meinen heute, er solle weiterhin eine realitätsferne Doktrin bleiben. Und zwar egal, welche Medienelite oder Politikerkaste ihn auch immer propagiert: Die lügen doch eh.“

Wie überraschend und kurzfristig einleuchtend das auch klingen mag – so richtig neu ist die These nicht. Mit leicht anderem Zungenschlag wurde bereits in den frühen 90er Jahren diskutiert, warum der Osten so anfällig für Fremdenfeindlichkeit und rechtes Gedankengut sei. Sie hätten die plurale Demokratie eben noch nicht richtig gelernt (meinten vor allem westdeutsche Politiker, die daraus gelegentlich auch einen persönlichen Auftrag ableiteten), sie hätten eben zu wenig Kontakt mit Nicht-Eingesessenen, meinten andere. Statt so ontisch daher zu kommen, stellt Soboczynski diese Thesen faktisch auf deren ideologische Füße: Es sind letztlich Ideen, die die Menschen antreiben – egal, in welchem Sinne. Eine der wichtigsten Ideen der Wendezeit, dass muss dann hier ergänzt werden, war das Versprechen eines besseren Lebens (mit möglichst nur geringfügig mehr Arbeitsanstrengung als im Osten üblich): Das kam trotz teils nicht unwesentlicher Anstrengung nicht an – und nun hat man Angst, dass es „noch schlechter“ wird: Die Kohlsche Utopieblase geplatzt – besser wird’s nun nicht mehr werden, denkt der Mitläufer. Treffend zum Ausdruck brachte dies offensichtlich unfreiwillig ein Freitaler Passant gegenüber einer Fernsehkamera: Er habe nun Angst, dass es nicht mehr so ist, wie man sich es zur Wende erhofft hat. Will heißen: Das Schlaraffenland kommt nun doch nicht, die Wahrscheinlichkeit dafür sinkt auch in der Zukunft. Kleinbürgerlichkeit ist dafür ein noch viel zu harmloser Ausdruck.

http://www.zeit.de/2016/10/osten-sozialismus-fluechtlinge-rechte-gewalt

 

This article was written by st