89/90, also. Einen Roman so – wortlos – zu nennen, ist eher ungewöhnlich. Man setzt auf den Inhalt der Zahlen, darauf, dass damit ausreichend Assoziationen geweckt werden. 89/90, oder auch: „die Wende“, der Begriff, dessen historische diskursive Setzung im Buch selbst auch beschrieben wird.
Ein Roman zur Wende also, ein „Wenderoman“? Komischerweise
wurde so etwas in den frühen 90er Jahren dringlich gefordert. Eine literarische
Auseinandersetzung mit den massiven gesellschaftlichen Veränderungen, mit den
Herausforderungen, vor denen die Menschen stehen. Doch die damaligen
literarischen Großgewichte „lieferten“ nicht. Und die neue Generation war noch
nicht in Sicht – eine Generation, die
selbst mittendrin war, die jung war, die auch Illusionen darüber hatte, was das
Ziel der „Wende“ sein wird.
Peter Richter war 1989 Jugendlicher in Dresden, und in dem
Buch beschreibt er schlicht das, was er erlebt, gedacht und erlitten hat. Die
darin genannten Orte sind alle real, die Personen nur mit den Anfangsbuchstaben
genannt, was den Eindruck von Authentizität noch stärkt.
Das Ganze liest sich dann auch eher als Bericht, denn als
ein Roman. Und es ist – nicht nur gefühlt – sehr nah dran, an dem, was in
Dresden in dieser Zeit passiert ist. So nah, dass, wenn das Buch genau so
bereits in den 90er erschienen wäre, alle nur abgewunken hätten: „Na klar war’s
so, warum ein Buch darüber? Wissen wir doch alle …“ Die fehlende literarische
Reflexion der Erlebnisse wäre sicher beklagt worden.
Nun, 30 Jahre später, sieht das alles anders aus: Die
Literaturkritik stellt beeindruckt fest, nie „so viel über die Wirklichkeit“ in
einem Roman gelernt zu haben. Und ja, auch mir ging es letztlich so: Endlich
jemand, der die Wirren jener Zeit detailliert und sachlich darstellt, ohne zu
übertreiben, der das damalige Lebensgefühl trifft: Das letzte Wehrlager, die
Schuldiskos mit „The Cure“, nächtliche Treffen im Freibad, die hilflosen
Lehrer, die erst mächtige, später wankende Stasi, die ersten Cafés in der Neustadt, die Nazis in den Straßen der
Stadt und: die naiven Hoffnungen auf eine tatsächlich befreite Gesellschaft,
die sich schnell in politische und kulturelle Randnischen verdrängt fanden.
Im zeitlichen Kern der „Wende“ waren Risse entstanden, die
nicht nur durch Stadtviertel gingen, sondern auch durch Schulklassen: Man war
plötzlich alternativ oder Nazi, was anderes war kaum möglich. Das hatte etwas
Ähnlichkeit mit der unsäglichen Pegida-Bewegung in der Stadt: Man war dagegen
oder dafür, und die Differenzen gingen auch hier durch persönliche Kreise. Und
deren Versammlungen können durchaus als späte Wiederholungen der damaligen
Kohl-Jubel-Veranstaltungen betrachtet werden, die in dem Buch eindrücklich
geschildert werden.
Lesenswert machen das Buch auch die vielen kleinen
Beobachtungen des Alltags der Wende: Etwa das Enttäuschtsein über die
westlichen Punkbands, die man bisher nur von (schlechter) Konserve kannte und deren
magisches Rauschen fehlte oder das großbürgerliche Verhalten der alternativen
Jugendlichen beim ersten Urlaub in Bulgarien mit Westgeld, wo man plötzlich der
King war und demonstrativ Bild-Zeitung las. Soziologische Phänomene wie
Rollenfindung und kommunikatives Probehandeln wurden nie so eindrücklich und
vollkommen unprätentiös beschrieben.
Dresden war selten ein Hort des Fortschritts. Um so
sympathischer erscheinen auch rückblickend jene, die den Mut hatten, anders zu
sein. In dem Buch erscheint dieses als ganz normales Verhalten von
Jugendlichen, denen die Frage nach dem anderen Geschlecht genauso wichtig war
wie die Frage nach der politisch-kulturellen Einstellung. Danke, Peter, dass Du
daran erinnert hast.