Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik

Sozialgeschichte ist immer dann spannend, wenn sie die umgebenden Strukturbedingungen in den Blick nimmt, versucht, Begründungen für Entwicklungen zu liefern, statt sie schein-ontisch zu setzen – und vor allem: Zu begründen, warum bestimmte Entwicklungen nicht eingetreten sind, nicht von Dauer waren bzw. durch andere abgelöst wurden. Klassisch hat dies der materialistische Ansatz geliefert. 

Dass auch dies nicht immer Letzterklärungen liefert, dass menschliches Handeln immer auch gewisse Freiheitsgrade jenseits äußerer Vorbestimmungen aufweist (je nach Klasse bzw. Schicht mit mehr oder weniger großer Spreizung), ist einem soziologisch interessiertem Blick immer bewusst. Diese „Optionen“ stellen nun keine beliebigen Öffnungen von Möglichkeitsräumen dar, sondern sind an soziale Aspekte der Interaktion, Moral- oder Religionsbegründungen rückgebunden.

Die aber damit zusammenhängenden Mechanismen en detail analysiert zu haben, ist das große Verdienst dieses Buches. Speziell die fragilen gesellschaftlichen Übergangsphasen wurden beispielhaft am 17./18. Jahrhundert in Westeuropa mit der thematischen Herauslösung von Religion und Moral aus den schichtspezifischen Interaktions- und Selbstbestätigungsformen (bei Luhmann vor allem der Oberschicht) eindrücklich analysiert. Anhand der damit einhergehenden stärkeren Selbstreferenzierungen kommunikativen Verhaltens wird sehr anschaulich der Übergang von „stratifikatorischer“ zu „funktionaler Differenzierung“ der Gesellschaft beschrieben.

Aspekte von Individualität, Glück oder statusbegründender Leistung konnten Luhmann zufolge ab bestimmten Phasen nur noch auf bestimmte Weise interaktiv geteilt werden, da sich die bisherigen Referenzpunkte (vor allem Religion, aber auch Schichtzugehörigkeit und der damit unverhandelbar einhergehende soziale Status) zwar nicht auflösten, aber selbst neu interaktiv verhandelt wurden. 

Die damit oft einhergehenden Ambivalenzen Individualität/Status, Moral/Selbstbild und nicht zuletzt Freundschaft/Moral mussten zumindest soweit geregelt werden, dass gesellschaftlich darauf Bezug genommen werden konnte. Auch die schönen Sublimierungen (bzw. „Involutionen“, wie Luhmann schreibt), die „innere Verfeinerung“ bestehender (hier ausschließlich: höfischer) Interaktionsmuster, um nach Wegfall externer Legitimationspunkte wie Religion oder „Status qua Geburt“ sich selbst irgendwie zu erhalten, sind am Beispiel der höfischen Sitten fein herausgearbeitete Beobachtungen. 

Was bleibt, ist einerseits der faszinierende, weil interaktionstheoretisch begründete Blick auf gesellschaftliche Handlungsräume. Wenn man dies noch mit einer auch materiell begründeten Sozialgeschichte verbinden würde, könnten weitere spannende Einblicke evoziert werden.

Denn voraussetzungslos waren die von Luhmann beschriebenen gesellschaftlichen Verschiebungen gesellschaftlicher Semantiken keineswegs, auch wenn sie selbst wiederum ganz konkrete soziale Folgen hatten.

This article was written by st

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